Von Johannes Falk
Am 6. März, dem Heimgangstag unseres Meisters Joseph Weißenberg, ein Tag, der sich nun zum 81. Male jährt, vereinen wir uns wieder im gemeinsamen Bekenntnis zu unserem heiligen Glauben.
Nach dem Bekenntnis unserer Altvorderen und unserem heutigen Glauben bekennen wir ihn als den von Jesus Christus verheißenen Tröster, Geist der Wahrheit und Heiligen Geist, als eine Offenbarung des Gottgeistes. Dieser Beitrag möchte jedoch vor allem eine Erinnerung an den Menschen Joseph Weißenberg sein. Einige Szenen aus seinem langen Leben sollen hier wiedergegeben werden, die alle getreulich überliefert worden sind: ein kleines Porträt eines einmaligen und wunderbaren Menschen.
Zu einem kirchlichen Jubiläum 1976 fragte die Journalistin einer großen Berliner Tageszeitung das Oberhaupt Frieda Müller: „Was hat Sie an Ihrem Vater, Joseph Weißenberg, am stärksten beeindruckt?“ Spontan erwiderte Schwester Friedchen: „Seine Menschlichkeit.“ Auf die anschließende Frage: „Was haben Sie sich von seinem Wirken besonders zum Vorbild genommen?“, antwortete sie: „Er hat es verstanden, seine Mitarbeiter in der Kirche und der Siedlung für die Arbeit so zu begeistern, dass sie freudig, freiwillig und gern bei ihm arbeiteten.“
Bereits als kleiner Junge – er selbst konnte noch kaum eine Tür öffnen – eilte er unbemerkt aus der elterlichen Wohnung in dem kleinen schlesischen Ort Hohenfriedeberg zu einem todkranken Mann, um ihm seine kleinen heilenden Hände aufzulegen. Später zum Ursprung dieser Heilgabe befragt, sagte er 1930 in einem Gerichtsprozess: „Das war ein Trieb in mir. Das musste ich machen.“ Weiter äußerte er sich zu seiner lebenslangen Heiltätigkeit: „Mein Gedanke war nur der, Menschen zu helfen, die da leiden, elend und krank waren. Ich bin fest überzeugt: Das, was ich tue, tue ich in göttlicher Allmacht, aber nicht aus mir, sondern es ist eine Kraft, die durch mich arbeitet.“
Diese Demut und Bescheidenheit begleitete ihn ein Leben lang. Es ist vom Meister überliefert, dass er sich vor Beginn jeder Sprechstunde hinkniete und innig zum himmlischen Vater betete. Auch hat er den Menschen immer wieder die Worte ans Herz gelegt: „Nur der Demut kann Gott Gnade geben, dem Reumütigen neigt er sein Ohr: Drum betet, betet, Christi Glieder, denn auf die Beter senkt der Geist sich nieder.“
Neben seinen Sprechstunden für die Heilungssuchenden hat er viele Jahre selbst die Menschen besucht. Mal kam er nach einem langen, anstrengenden Tag mit weiten Wegen spät abends nach Hause. Da wartete bereits jemand, um ihn zu einem Kranken zu rufen. Der Meister nahm sofort wieder seinen Mantel und begab sich auf einen weiten Weg nach auswärts. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit legte er, wenn er mitten in der Nacht gerufen wurde und oft auch in der Stadt, weite, ja mitunter stundenlange Fußwege zurück.
Oft stand er an Krankenbetten sehr armer Leute. Wenn sie ihm dann etwas geben wollten, wehrte er ab: „Ich nehme nichts, pflegen Sie lieber den Kranken dafür, damit er wieder zu Kräften kommt!“, und schon war er aus dem Haus hinaus. Bei anderen war noch größere Not, da schüttete er nach der Behandlung den ganzen Inhalt seines Portemonnaies auf den Tisch: „Holen Sie sich was zu essen und zu trinken, dann werden Sie wieder gesund werden!“ Und ohne Fahrgeld musste er dann auch wieder zu Fuß nach Hause gehen.
Von seiner Ausbildung als Soldat in den 1870er Jahren hat der Meister oft mit Freude und Hochachtung gesprochen, weil er bis zu diesem Zeitpunkt immer ein schweres und nicht sorgenfreies Leben hatte – durch den frühen Tod der Eltern musste er für vieles selbst eintreten und auch für seine jüngeren Geschwister mit sorgen –, so war ihm die Militärzeit eine schöne und unbeschwerte Zeit, wie er später des Öfteren erwähnte. An eine Episode seiner Ausbildung im schlesischen Liegnitz erinnerte er sich gern. Zu einem besonderen Anlass in der Kaserne hatte er ein Gedicht zu verfassen. Die Verse begannen mit den Worten: „Wie glücklich ist doch ein Soldat, der einen guten Hauptmann hat.“ Doch weder der Hauptmann noch die Unteroffiziere oder die Rekruten kamen ganz ungeschoren in den sehr humorvollen 30 (!) Strophen über die Tücken und Freuden eines Soldatenalltags davon.
Bei fröhlichen Anlässen in geschwisterlicher Gemeinschaft hat er dieses lange Gedicht manchmal zur Freude aller vorgetragen. Einem Besucher der Friedensstadt erzählte er einmal, dass er dieses Gedicht damals im Auftrag seines Hauptmanns verfasst habe, wozu er drei Tage dienstfrei bekam. „Aber in drei Stunden war ich fertig damit und hatte nun die andere Zeit frei.“
Über einen unerfüllten Wunsch aus dieser Zeit sprach der Meister sogar noch in seinem letzten Lebensjahr in Obernigk: „Ich wollte ja Spielmann werden, aber ich war zu klein!“
Ein besonders menschenfreundlicher „Eingriff“ datiert aus dem Ersten Weltkrieg. Nach zwei Jahren Krieg war die Versorgungslage in Berlin katastrophal. „Kohlrübenwinter“ nannte man den Kriegswinter 1916/1917. In dieser Zeit war auch Joseph Weißenberg öfter unterwegs, um von Bekannten auf dem Lande Lebensmittel zu organisieren. „Hamsterfahrten“ nannte man das zu meiner Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das war verboten, und Kontrolleure, Gendarmen genannt, nahmen den Leuten auf den Bahnhöfen oft alles wieder weg.
Den Meister hat es damals zwar nicht erwischt, aber sein Rucksack war dennoch meist sehr erleichtert oder fast leer. Er verschenkte unterwegs an die, die Hunger hatten – und zu Hause bekam noch etwas der Nachbar, der Hauswirt, der Wachtmeister.
Dass aber an der Bahnsperre diese Gendarmen den Kriegerfrauen und -witwen den Rucksack mit Kartoffeln wegnahmen, den sie stundenlang geschleppt hatten und überhaupt alle Lebensmittel – das konnte der Meister nicht mit ansehen. Oftmals griff er helfend ein, und das geschah so: Er ließ seinen Begleiter kurz vor dem Bahnhof zurück, ging dann zu den Gendarmen, sprach mit ihnen und lud sie zu einem schönen heißen Grog im Bahnhofslokal ein. Diesen Moment musste der Begleiter nutzen, um die Wartenden auf den Bahnsteig zu schicken, sobald der Zug kam. Waren dann alle glücklich entkommen, kam der Begleiter ins Lokal. So konnten sie zwar erst einen Zug später fahren, aber der Meister war glücklich, dass so vielen durch diesen „Trick“ geholfen werden konnte.
Bereits als Maurer auf den Baustellen hat er vielen geholfen. Da kam zum Beispiel ein Arbeitskollege mit einer geschwollenen Backe. Der Meister legte seine Hand drauf, und es wurde gut. Die Schmerzen verschwanden sofort. Einer hatte sich den Fuß verstaucht, andere hatten hier und da Schmerzen. Er nahm sie ihnen ab und machte die Menschen gesund. Da nannten sie ihn, teils spöttisch, teils wohlwollend dankbar: „Jesus!“ Wenn er auf den Bau kam, so riefen sie schon von weitem: „Jesus kommt!“
Stets helfend und gebend für andere war dieser wunderbare Mensch unter Menschen. Keiner, der nicht geheilt oder getröstet von ihm gegangen ist. Doch für ihn selbst gab es keine Ausnahme von Leid und Schmerz. Hier wollen wir nur einmal an die körperlichen Leiden erinnern. Schwester Friedchen hat uns öfter davon berichtet, wie er mit zunehmendem Alter sehr unter schmerzenden Füßen zu leiden hatte. Auch bereits am Anfang seiner Berliner Heiltätigkeit hatte er oft mit Krankheiten zu kämpfen. So finden sich in dem „Patientenbuch“, das er seit 1904 nach behördlichen Auflagen führen musste, in den Jahren 1904, 1905 und 1906 Eintragungen über längere Krankheitszeiten. U.a.: „Wegen Krankheit keine Sprechstunde (von...bis). – „War sehr krank.“ – „Dank nach Krankheit.“
In solchen und ähnlichen Zeiten der Schmerzen und Demütigung sagte er oft die folgenden fröhlichen Verse. Sogar nach der schrecklichen Gefängnis– und Zuchthauszeit gab er damit manchem mit seinem unerschütterlichen Gottvertrauen und seinem ungebrochenen Humor Aufrichtung und neuen Lebensmut: „Traurig sein kann ich nicht, bei meiner Seele nicht, allzeit fidel! Wenn wir lust’gen Leut nicht wärn, wer sollt das viele Geld verzehrn? Allzeit fidel, fidel!“
Und das mit dem „vielen Geld“ sprach er besonders dann, wenn wieder mal totale Ebbe in seinem Portemonnaie war. Auch Tränen hat er vergossen. Nach grausamer Untersuchungshaft mit Folter und nach Ausweisung aus der Friedensstadt wohnte der Meister für einige Tage bei Geschwister Max und Anna Haack im Berliner Norden, dort, wo einst Schwester Friedchen als Kind bei „Mamachen Haack“ ihr beschütztes Zuhause hatte. Ein Besucher schreibt über eine Begegnung: „Wir wollten uns irgendwo hinsetzen und warten – es war kurz nach der Mittagszeit –, da stand schon unser Meister vor uns. Er erzählte sehr viel. Auch über den kommenden Weltkrieg. Von furchtbaren Kämpfen und Blutvergießen sprach er, wobei er wörtlich sagte: „Das kann ich nicht verhindern.‘ Dabei weinte der Meister. Es war mir, als sähe ich den lieben Heiland vor mir, wie er über Jerusalem weinte.“
Hier noch ein Juwel der Erinnerung. Nach Verbüßung der Zuchthausstrafe kommt der Meister zunächst zurück in die Friedensstadt. Zwei Brüder holen ihn mit dem Wagen ab. Als einer der beiden am nächsten Tag den Meister aufsucht, da ist dieser gerade dabei, ein Päckchen zu packen: für den Anstaltsleiter in Luckau, der den Meister gut behandelt hatte. Diese kleine Geste der Verbundenheit, glaube ich, sagt uns mehr über Dankbarkeit und Liebe als tausend Predigten.
Auch mit dem Sakrament der Handauflegung nahm Joseph Weißenberg es sehr ernst. Regelmäßig ließ er sich die Hände auflegen. Dazu gebe ich hier wieder, was uns Schwester Friedchen einst berichtete:
Als er in der Verbannung in Obernigk mit Leid und Schmerzen der Vollendung seines irdischen Lebens entgegenging, wartete er stets mit Vorfreude und voller Ungeduld auf seinen Missionshelfer Martin Falk, den späteren Gemeindeführer von Berlin-Steglitz. Dieser stand zu der Zeit im Heeresdienst in Frankfurt (Oder). Da Krieg war, durfte er sich nur für einen kurzen Sonderurlaub zu seiner Familie in Berlin abmelden. Da er wusste, wie sehr der Meister auf ihn wartete, „beichtete“ er in seiner Not seinem Vorgesetzten, er habe bei Breslau in Schlesien eine Freundin, eine Liebste! Der Vorgesetzte war ein Mensch mit Herz. Er genehmigte ihm Urlaub. Er gewährte ihm alle 14 Tage am Wochenende Sonderurlaub. Einmal, als Martin Falk sich nicht rechtzeitig vor dem Wochenende meldete, war es sein Vorgesetzter selbst, der ihn erinnerte: „Noch keinen Urlaub eingereicht? Das Wochenende rückt ran!“
Dann kam die letzte Zeit. Der Meister konnte schon lange nicht mehr aufstehen. Wenn dann Tag und Stunde des Besuches nahten, bat er Schwester Friedchen stets erwartungsvoll: „Mach das Fenster auf und sieh auf die Straße, ob der Martin schon da ist.“ Und wieder: „Sieh nach, ob er schon kommt!“ Und wenn er dann kam, freute sich der Meister wie über das größte Geschenk des Himmels. – Welch ein Mensch!
Doch Obernigk bedeutete auch bis zum letzten Atemzug Leidensweg. Als sein irdisches Leben sich dem Ende näherte, da kam die Nachricht von der Enteignung der Friedensstadt. „Sie haben mir meine Siedlung weggenommen, mein Lebenswerk!“, sagte er unter Tränen. Schwester Friedchen erinnerte uns nochmal daran, als sie zum Bau der Gedenkstätte im Lindenhof aufrief: „In den letzten Tagen und Stunden in Obernigk sagte der Meister so oft zu mir: ‚Sie haben mir meine Siedlung weggenommen, aber wir bekommen alles wieder und noch viel mehr dazu; aber lass dir die Zeit nicht lang werden.‘“ Auch rief er einigen Besuchern in Obernigk zu: „Den Glauben hochhalten!“, und: „Auf ein frohes Wiedersehen in den Glauer Bergen!“
Dieses Lebenswerk an und in den Glauer Bergen, das heute nun weiter blüht und wächst, verdanken wir dem großen Propheten und Gottesmann, aber auch besonders dem einmaligen, wunderbaren und unvergesslichen Menschen Joseph Weißenberg!